Die Ich-fahre-mit-dem-Fahrrad-um-die-Welt-Blase

📍Saudi-Arabien, 6845 km unterwegs


Das Leben in Filterblasen

Für wirklich jeden Lifestyle auf dieser Welt gibt es eine Bubble und ohne es immer direkt zu merken, leben wir alle in einer oder sogar mehreren Blasen gleichzeitig. Wir suchen uns je nach Lebensphase eine Gruppe an Menschen, die vielleicht aktuell an einem ähnlichen Punkt im Leben steht oder eine ähnliche Erfahrung macht oder die gleiche Sicht auf die Welt teilt. Wie auch immer sie aussehen mag. Es führt dazu, dass man sich die meiste Zeit mit Menschen austauscht, die ähnlich denken, aktuell ähnliche Herausforderungen und ähnliche Meinungen zu ähnlichen Themen haben. 

 

In Joschas und meinem Leben gab es da zB die Heimatort-Bubble, die Uni-Bubble, die Work-&-Travel-Bubble, die AIESEC-Bubble, die Backpacker-Bubble, die Start-Up-Bubble, die LinkedIn-Bubble, die Berlin-Bubble, die Yoga-Bubble. Ach, was waren sie bunt und bereichernd, bis viele von ihnen uns zu eng wurden und platzten. Mittlerweile merken wir relativ schnell, wenn wir uns wieder in einer bewegen. Sie sind ja an sich nicht schlecht. Sie geben einem Halt, Orientierung, Identität und zu Beginn auch viele neue Informationen, Inspirationen und Raum für Wachstum. Wir mögen es, uns oft auch ganz unbewusst neuen Communities hinzugeben und von anderen zu lernen. Doch das Tückische an unseren geliebten Blubberblasen ist es, dass wir in ihnen auf Dauer dazu verleitet werden, ein Einheitsbrei zu werden. Aus anfänglicher Orientierung kann schnell Vergleich und dann Anpassung entstehen. Wenn wir uns erst einmal zu einer Gruppe hinzugehörig fühlen und vermehrt aufeinander schauen, dann wollen wir da auch nicht unbedingt aus der Reihe tanzen. So werden die Meinungen, Wünsche, Träume und Erfahrungen der anderen plötzlich die eigenen, ohne dass wir es vielleicht unbedingt wollen.



Aktuell und ohne es jemals erwartet zu haben, bewegen wir uns jetzt trotz ständiger Bewegung schon wieder in einer Blase. Diesmal ist es die Fahrrad-Langzeitreise-Blase. Je länger wir unterwegs sind, desto mehr Leute finden wir (v.a. online), die mit dem Fahrrad um die Welt fahren. Einerseits ist es großartig, weil wir uns dadurch gegenseitig überall auf der Welt inspirieren und unterstützen können. Angesichts der gewaltigen Anstrengung, die man auf dem Fahrrad an den Tag legt, tut es gut zu sehen, dass es anderen ähnlich geht. Man fühlt sich mit seinen Struggles und Unsicherheiten nicht alleine und von anderen verstanden. Wir stellen uns den gleichen Herausforderungen und haben die meiste Zeit die gleichen Fragen. Abhilfe schaffen Instagram, riesige WhatsApp-Gruppen und YouTube-Kanäle. Und für die Infos sind wir auch dankbar. Doch gleichzeitig überfordert mich dieses Übermaß an Informationen. Mal abgesehen davon, dass die Welt in den sozialen Medien kaum die Realität abbildet. Es nimmt mir zudem den Fokus auf meine eigene Reise. Auf die Individualität meiner persönlichen Reise.

 

Statt dass ich einfach der Nase lang radeln will, ertappe ich mich dabei, wie ich online nach der idealen Route suche. Dann sehe ich auf Instagram Geschichten anderer Radreisender und merke, wie ich das auch erleben möchte. Mein ungebetener und oft erfolgreich verdrängter Freund "FOMO" ("fear of missing out", dt. "die Angst, etwas zu verpassen") klopft dann wieder an die Tür und löst Stress und Nervosität aus. Ich höre dann mehr anderen zu als mir selbst.

 

Plötzlich frage ich mich, ob ich alles richtig mache. Fahr ich gerade richtig mit dem Fahrrad um die Welt? Oder macht man das anders? Nehme ich die richtige Route? Fahr ich genug Kilometer am Tag? Sehe ich alles, was "sehenswürdig" ist? Bin ich zu langsam? Sollte ich zu dieser Jahreszeit ganz woanders sein? Mache ich genug Fotos? Sollte ich öfter die Drohne und das Stativ herausholen? Soll ich auch ein YouTube-Kanal machen? Ist es noch eine Fahrradreise, wenn ich auch mal auf öffentliche Verkehrsmittel, Hitchhiking oder gar das Flugzeug zugreife? Bin ich eine Mogelpackung? Und wie sieht es eigentlich mit dem Spendenprojekt aus? Tu ich genug dafür? Bin ich es wert? Da ist sie wieder. Die Abwärtsspirale der Selbstzweifel, die ich schon aus meinen anderen Lebensphasen und Filterblasen kenne. Die gleichen Gedanken in einem neuen Szenario, in einer neuen Peer-Group. 

 


Ist das noch meine Reise?

Und wie jede Blase verleitet auch diese mich dazu, mich zu vergleichen und kreiert den Wunsch der Nachahmung. Nicht weil ich es wirklich will, sondern weil mir die sozialen Medien suggerieren, dass ich das zu wollen habe. Dabei will ich gar kein schnelles Länder-Hopping machen (davon hatte ich bereits genug in meinem Leben als Backpackerin). Ich will keine 80 km bis 100 km am Tag radeln. Das ist mir zu schnell. Ich will nicht die Highlights auf Google Maps abfahren und genau die gleichen Fotos auf genau den gleichen Straßen wie die anderen machen. Ich will nicht eine Meinung über ein Land haben, bevor ich dort war. Wo bleibt da noch das Abenteuer, die Überraschung, die ungemütliche Unsicherheit und die Freiheit, wenn ich das Gefühl habe, dass ich gewisse Dinge auf eine bestimmte Art und Weise erleben muss? Die vielen Bilder und Informationen, die wir online bekommen, sind für mich Fluch und Segen zugleich. Ich fühle mich sowohl zugehörig, als auch allein. Ich fühle mich sowohl gut aufgehoben, als auch getrieben.

 


"Ich wollte alles, nur kein oberflächliches Sightseeing."

 

Auch wenn wir reisen, wir nehmen uns mit. Und alte Muster verändern sich nicht von heute auf morgen. Die Herausforderung, ich selbst zu bleiben und mich nicht von den Handlungen sowie Sichtweisen anderer zu sehr beeinflussen zu lassen, habe ich daheim genauso wie unterwegs auf dem Fahrrad. Ich werde nur immer besser darin, auf Meta-Ebene zu gehen und meine Gedanken zu hinterfragen. Pause und Distanz helfen mir dabei. Die regelmäßige Rückbesinnung auf mein persönliches “Warum?” für diese Reise erinnert mich daran, warum ich am 1. August 2022 alles hinter mir gelassen habe. Ich wollte ein langsames und zugleich intensives Leben nach meinen Regeln. Ich wollte Freiheit spüren und mich in meinem Tempo auf Land und Leute einlassen. Ich wollte nach Lust und Laune radeln und keine fixe Route im Kopf haben. Ich wollte mich treiben lassen, anstatt mich getrieben zu fühlen. Ich wollte Tiefe und Einzigartigkeit erleben. Ich wollte loslassen und mich auf eine neue Art und Weise entdecken. Ich wollte alles, nur kein oberflächliches Sightseeing. Ich wollte keine Kopie sein. Ich wollte etwas Echtes. Ich wollte ich sein.


Ich habe mir schon gedacht, dass es nicht einfach wird, diese Wünsche wahr werden zu lassen. Es ist für mich anscheinend immer noch mit sehr viel Arbeit verbunden und es bleibt ein Prozess. Doch ich merke, wie es mir immer besser gelingt. Ich bin froh, dass wir trotz vieler Einflüsse Saudi-Arabien zu unserer persönlichen Erfahrung gemacht haben. Wir sind nicht die Routen anderer nachgefahren. Wir haben uns nicht zeitlich unter Druck setzen lassen. Wir wollten nicht alles sehen. Wir haben sogar viele vermeintliche Highlights bewusst ausgelassen. Wir haben die Reise die meiste Zeit zu unserer persönlichen Reise gemacht und haben alles spontan und intuitiv entschieden. Wir hatten so gut wie keine Erwartungen und dadurch wurde es zu einer unvergesslichen, einzigartigen Zeit mit vielen Überraschungen und prägenden Begegnungen.

 

Besonders stolz bin ich darauf, dass wir es schaffen, die Geschwindigkeit zwischendurch herauszunehmen. Wir machen auch mal längere Pausen, wenn wir sie brauchen. Wir reden, reflektieren und hören zu. Für uns ist es nicht nur eine "äußere Reise", bei der wir die Vielfalt unserer Erde hautnah und so unverfälscht wie möglich erleben wollen. Es ist auch eine "innere Reise". Um wirklich das volle Potenzial aus unseren Erfahrungen zu schöpfen und uns als Mensch weiterzuentwickeln, brauchen wir Zeit, um die vielen Erlebnisse zu verarbeiten und in Perspektive zu setzen. 

 

Ich hoffe, dass wir uns unser Tempo und unsere Authentizität auf den nächsten Kilometern weiterhin beibehalten können. Die digitale Welt macht es auch uns nicht leicht, doch wir lernen immer besser, mit ihr umzugehen. 

 

Xenia


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