📍Bulgarien, 3000 km unterwegs
Über Nachbarschaftsliebe und das Sicherheitsgefühl
Wir sind bereits durch 8 Länder mit dem Fahrrad gereist, wovon alle dem Zentrum und Osten Europas zu verordnen sind:
Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Serbien, Kosovo, Nordmazedonien und Bulgarien.
Die Beziehung zwischen den einzelnen Nachbarländern ist dabei sehr unterschiedlich zu beschreiben. Das liegt vor allem an der Geschichte der Länder, wie zum Beispiel der vermeintliche Einfluss von Alexander dem Großen, der Ausbreitung des Osmanischen Reiches oder den Konsequenzen des Jugoslawien- und Kosovokriegs. Dies schürte tiefe, gegenseitige Ressentiments, welche über Generationen weitergegeben wurden. Das hat sich auch in unserer persönlichen Reise widergespiegelt.
In der Slowakei erzählte man uns die Ungarn seien etwas seltsam. In Südserbien verbrachten wir einen Abend, bei dem man uns mit starker Putin-Sympathie von ihren Wahrheiten überzeugen wollte. Aus deren Sicht seien die Serben in Bosnien wohl ganz ok, sowie die Kroaten, aber wir sollten bloß nicht nach Albanien und in den Kosovo reisen! Da sei es gefährlich, und der Feind Amerika hätte zu großen Einfluss. In Nordmazedonien, vor allem Skopje, ist der Stolz auf ihre mazedonischen Wurzeln sowie die Abstammung von Alexander dem Großen kaum zu übersehen. Die Hauptstadt präsentiert mit zahlreichen Monumenten und Statuen ihre historische Relevanz in der europäischen Geschichte und grenzt sich damit auch vom muslimischen Teil ihres Landes ab (welcher immerhin ein Drittel des Landes ausmacht). Laut einem dortigem Gastgeber sollen wir auf keinen Fall in die albanischen Dörfer des Landes reisen, denn mal wieder wäre es zu gefährlich. Ach ja, und die Bulgaren seien auch nicht vertrauenswürdig. In Bulgarien hingegen werden die Mazedonier und deren Anspruch auf eine nationale Souveränität nur belächelt und den Türken wird mit Argwohn begegnet.
Natürlich haben diese persönlichen Meinungen zu bestimmten Nachbarländern ihre Gründe. Und für uns ist es interessant diese Perspektiven aus erster Hand zu erfahren. Wir mussten jedoch manchmal sein wenig schmunzeln, da laut einigen Einheimischen, die selbst meist nie in diese Länder gereist sind, unsere Reise mit dem Fahrrad entweder brandgefährlich oder fast unmöglich erscheint.
Vielleicht würde sich die Meinung dieser Menschen ändern, wenn sie selbst mit dem Fahrrad durch ihre eigenen Nachbarländer fahren würden. Vielleicht würden ihnen dann mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede auffallen. Vielleicht aber auch nicht.
Ist diese Reise eigentlich gefährlich?
Wir sind allen unserer virtuellen Reisebegleiter*innen sehr dankbar. Nicht nur unterstützt ihr unser Vorhaben eine mobile Tierklinik zu finanzieren. Ihr schreibt uns positive Nachrichten, Aufmunterungen, teilt Inspirationen, Tipps oder stellt uns spannende Fragen.
Dabei sind gerade die gestellten Fragen eine tolle Möglichkeit, unsere Reise in Perspektive zu anderen Sichtweisen und Lebenssituationen zu reflektieren. Einige Frage erreichen uns auch zum Thema Sicherheit:
- Wie seid ihr versichert?
- Wie findet ihr einen sicheren Schauplatz?
- Wo übernachtet ihr?
- Wie schützt ihr euch vor Straßenhunden?
Und einige Nachrichten enden mit den Sätzen “Passt auf euch auf!” oder “Seid vorsichtig”.
Diese manchmal besorgten Verabschiedungen brachten mich dann zum Nachdenken…
Ist diese Reise eigentlich gefährlich?
Auf diese Frage schalten sich zwei unterschiedliche Teile meines Gehirns ein.
Auf der einen Seite wittert mein emotionaler Urinstinkt auf dem Fahrrad viele Gefahren, wie zum Beispiel die vorbei rauschenden LKWs oder das manchmal mulmige Gefühl bei der abendlichen Schlafplatzsuche.
Auf der anderen Seite ziehe ich die Analysebrille auf und möchte versuchen herauszufinden, wie gefährlich diese Reise basierend auf Evidenz ist.
ACHTUNG: Nun folgt ein kleiner Möchtegern-Statistkexkurs.
Laut Aussagen des Auswärtigen Amts sind 2012 950 Deutsche im Ausland gestorben. Das sind ca. 0,1% aller Todesfälle. Bei der Mehrheit der Personen handelte es sich dabei um Menschen über 50 Jahre.
Weltweit sterben laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) über 1,3 Millionen Menschen jährlich im Straßenverkehr. Die Hälfte der Betroffenen sind dabei Motorradfahrer:innen, Fußgänger:innen und ... Fahrradfahrer:innen. Das klingt viel, aber es gibt noch 9 andere Todesursachen, die um einiges mehr Opfer pro Jahr fordern und der Trend der Unfalltoten ist in den letzten 20 Jahren rückläufig.
Bezogen auf Deutschland sterben laut Statista pro Jahr 250 Radfahrer:innen. Das sind ca. 10% im Vergleich zu den Verkehrstoten durch Autounfälle. Natürlich können wir auch durch Krankheiten das Zeitliche segnen, jedoch sind wir kein Teil der Risikogruppen.
Naja, bin ich jetzt so viel schlauer? Mein persönliches Fazit daraus ist, dass die genaue Gefährlichkeit für unsere Reise sich nicht einfach berechnen lässt, aber in Deutschland Fahrrad zu fahren, wäre wohl um einiges sicherer als im Ausland. Durch die fehlende Fahrradinfrastruktur in vielen Ländern sind wir eine noch “vulnerablere” Gruppe und leicht zu übersehen. Wir sind aber aufgebrochen, um etwas zu erleben. Und Erfahrungen lassen sich nunmal nicht von der Couch aus produzieren. Das Risiko, dass etwas passieren kann, gehen wir also gerne ein. Und wer versichert uns, dass uns in Deutschland nicht etwas passiert?
"Am Ende meines Lebens will ich auf dem Sterbebett sagen können, dass ich ein intensives und vielseitiges Leben hatte."
Meiner Meinung nach leben wir in Deutschland oft in einer Sicherheitsillusion. Durch unseren Lebensstil und Routinen bauen wir uns künstlich ein Gefühl der Sicherheit auf, welches gar nicht existiert. “Mir wird schon nichts passieren.” Doch die Gefahren existieren, wir blenden sie nur aus. Sonst würden wir nicht so viel rauchen, Alkohol trinken, Auto fahren und einen ungesunden Lebensstil pflegen.
Oder wie oft denkst du morgens auf der Autobahn über dein Sterberisiko nach?
Mein Vater träumte sein Leben lang von entfernten Ländern - der unbeschreiblich rauen Natur am südlichsten Gipfel Südamerikas oder den Gerüchen auf orientalischen Gewürzmärkten. Viel zu früh ist er jedoch an Krebs gestorben und konnte nichts von seinen Träumen erleben, weil er sie aufgeschoben hatte.
Für mich ziehe ich daraus die Motivation Dinge in die Tat umzusetzen, die ich wirklich, wirklich will, auch wenn es gefährlich ist. Dabei können nicht alle Entscheidungen sicherheitsorientiert und langfristig gedacht werden, da der Moment und der Zufall zu viele Schätze verbergen.
Am Ende meines Lebens will ich auf dem Sterbebett sagen können, dass ich ein intensives und vielseitiges Leben hatte und viele unterschiedliche Erfahrungen sammeln konnte.
Joscha
Kommentar schreiben