4 Aha-Momente auf über zwei Jahren Radreise

📍Kirgistan 16.708 km unterwegs

Was ist die Essenz des Reisens?

Nach über 2 Jahren Weltreise mit dem Fahrrad haben wir viel erlebt. Wir durften unzählige Menschen kennenlernen (meist auf einem Cay), in fremde Wohnzimmer eintreten, in neue Sprach- und Kulturwelten eintauchen und an hunderten von fremden Orten schlafen. Unsere Familie und Freunde fragen sich schon, ob wir uns mit all diesen Eindrücken und intensiven Einflüssen überhaupt wieder in die deutsche Gesellschaft integrieren können. Ja, natürlich können wir das. Aber diese Reise verändert uns. Der Schriftsteller Ilija Trojanow schreibt in seinem Buch “Gebrauchsanweisung fürs Reisen” ganz passend dazu:

"Das höchste Ideal des Reisens ist die Veränderung des Reisenden. Reisen, die solchen Ansprüchen genügen, sind aufwändig und anstrengend, sie erfordern Zeit und Mühsal, sie verlangen uns einiges ab."

Die Essenz des Reisens und der Sinn des Vagabundierens ist somit eng verbunden mit einer inneren Transformation, basierend auf den äußeren Einflüssen. Nur von historischen Fakten, Routen oder Höhepunkten unseres Abenteuers zu berichten, wäre somit meiner Meinung nach angesichts der vielen Eindrücke ein Armutszeugnis. Diese Reise hat es verdient, mehr zu sein als eine bloße Beschreibung aufeinander folgender Ereignisse. Womit haben wir diese intensiven Erlebnisse verdient, wenn wir nicht unser Herz öffnen und in uns hineinhorchen, was diese Reise tief in uns bewegt hat?

 

Mit den folgenden vier kulturellen Aha-Momenten wollen wir einen Einblick geben, auf welchen Ebenen uns die Reise bereits geprägt hat. Dabei sind die Erklärungen und Schlussfolgerungen das Ergebnis der Reflexion, basierend auf unseren Erfahrungen. Wir erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, Übertragbarkeit oder Verallgemeinerbarkeit unserer Überlegungen.


1. Familie über alles

Im kurdischen Teil des Irak hatten wir das Glück, fünf Tage lang das Leben in einer Großfamilie hautnah mitzuerleben. Von der ersten Sekunde an fühlten wir uns integriert und wie Zuhause. Die Haustür stand für alle offen und so lernten wir in kürzester Zeit viele Cousins und Cousinen, Onkel und Tanten und auch entferntere Verwandte kennen. Was für ein Kontrastprogramm zu Deutschland! Die intensive räumliche Nähe zu allen Familienmitgliedern, die gegenseitigen Besuche und Unterstützungen sind Alltag.

 

Dieser starke Familienzusammenhalt fühlte sich für uns so natürlich und selbstverständlich an. Trotz Auslandsstudium leben alle unverheirateten Söhne dieser  kurdischen Familie noch Zuhause, obwohl sie bereits in Städten wie London oder Moskau gelebt haben. Die Familie steht über allem. Sie können sich keine andere Zukunft als in diesem kleinen 500 Seelendorf vorstellen. Bereits unser Hinterfragen prallte auf Unverständnis. Auch eine so lange Reise wie unsere käme für sie nicht in Frage, weil sie so lange von ihren Familien getrennt wären.

 

Je länger wir Zeit mit der Familie verbringen, verstehen wir auch, warum sie sich für so ein Leben entscheiden. Man kann sich aufeinander verlassen. Alte Menschen werden aktiv integriert und erfahren nicht nur Unterstützung, sondern höchste Anerkennung in der Familienhierarchie. 

 

Aus unserer Brille sehen wir natürlich auch die Nachteile dieses kollektivistisch orientierten Lebens. Die Entfaltung des Individuums steht nicht im Vordergrund und wir fragen uns, ob man aufgrund der gegenseitigen Kontrolle und Erwartungen überhaupt den Raum findet, eine eigene Meinung zu bilden und diese im Zweifel in solch einem starken Familienverbund verteidigen durchsetzen kann.

Der Irak - eine kollektivistische Kultur

Der niederländische Kulturwissenschaftler und Sozialpsychologe Geert Hofstede klassifiziert den Irak in seinem Modell der sechs Kulturdimensionen als „kollektivistische“ Kultur. Dies äußert sich in einer engen und langfristigen Bindung an die Mitglieder einer „Gruppe“, sei es die Familie, die Großfamilie oder erweiterte Beziehungen. Loyalität ist in einer kollektivistischen Kultur von größter Bedeutung und hat Vorrang vor den meisten anderen gesellschaftlichen Regeln und Vorschriften. Die irakische Gesellschaft fördert starke Beziehungen, in denen jeder Verantwortung für die anderen Mitglieder der Gruppe übernimmt.

 

Durch diese Erfahrung realisieren wir am eigenen Leib, was es bedeutet, mit so vielen Menschen soziale Kontakte zu pflegen und das Gefühl von Unterstützung zu erlangen.

Wie nah oder fern wollen wir von unserer Familie leben? Wie viel Zeit wollen wir miteinander verbringen? Welches Gefühl des Zusammenlebens haben wir in unserer Familie und wie möchten wir es in Zukunft haben?

 

Vieles von dem, was wir erfahren haben, hätten wir auch in einem Buch oder einem Artikel nachlesen können. Aber die Erfahrung, Teil dieser kurdischen Großfamilie zu sein, hat den Blickwinkel verändert. Erst das Miterleben dieser für uns anderen Lebensweise hat uns die Vorteile hautnah aufgezeigt und zum Nachdenken angeregt, wo wir uns von dieser kollektivistischen Familienkultur eine “Scheibe” abschneiden können.

2. Taroof - Die iranische Höflichkeitsform

Bereits vor unserer Reise in den Iran hatten wir von der im Alltag weit verbreiteten Höflichkeitsform Taroof gehört. Sie bestimmt und prägt das soziale und gesellschaftliche Miteinander in der täglichen Interaktion der Iraner. Doch was genau ist Taroof? Es dauerte einige Wochen, bis wir die Tragweite und Ausprägung wirklich verstanden.

 

Als wir eines Abends in der Stadt Shiraz ein Taxi nahmen, kamen wir mit dem Taxifahrer ins Gespräch. Er konnte Englisch und wir hatten eine interessante, wenn auch deprimierende Unterhaltung darüber, warum er mit einem abgeschlossenem Studium Taxi fahren muss und mit knapp 200 Dollar im Monat kaum über die Runden kommt. Aber die wirtschaftliche und politische Situation im Iran ist ein Thema für einen eigenen Blogartikel.

"Das Gespräch war wie ein Theaterstück."

Am Ende der Fahrt kramte ich in meinem Portemonnaie nach den passenden Scheinen, um die Fahrt zu bezahlen. Da winkte der Taxifahrer ab und betonte, dass die Fahrt für uns kostenlos sei und wir als Gäste seines Landes nichts bezahlen müssten. Eine solche Situation, dass ein Taxifahrer kein Geld annehmen will, haben wir auf unseren Reisen in über 50 Ländern noch nicht erlebt. Joscha protestierte, dass er diese Geste nicht annehmen könne und versuchte, ihm das Geld in die Hand zu drücken. Dieser winkte ab und legte daraufhin seine Hand um Joschas Schultern. Er bedankte sich erneut für die schöne Zeit und betonte, dass er das Geld nicht annehmen könne. Das Gespräch war wie ein Theaterstück. Dieses Hin und Her ging noch eine Weile, bis Joscha mit einer schnellen Bewegung das Geld in die Mittelkonsole warf und wir aus dem Auto sprangen. Mit einem Lächeln nahm der Taxifahrer das Geld, bedankte sich und fuhr davon.

 

Diese Interaktion war Taroof! Und wenn wir nach seiner ersten oder zweiten Höflichkeitsgeste ausgestiegen wären, ohne zu bezahlen, hätte er sicherlich verdutzt geschaut. Denn auch im Iran bezahlt man natürlich eine Taxifahrt. Und nein, er wollte uns nicht einladen, weil er nett zu Tourist:innen sein wollte. Taarof ist eine Art, den eigenen Willen zu verleugnen, um dem anderen zu gefallen und ihm ein gutes Gefühl zu geben. Höflichkeit, Ehrerbietung und sogar das Überreichen von materiellen Werten und Gefälligkeiten sind wesentliche Merkmale des Taarof. Es handelt sich um eine übertriebene Form der Höflichkeit, die jedoch von Außenstehenden, insbesondere von Tourist:innen, oft missverstanden wird. Für Menschen, die in einer Gesellschaft sozialisiert wurden, die eher direkte Kommunikationswege pflegt, mag es wie eine zeremonielle Unaufrichtigkeit erscheinen, aber es ist ein kulturelles Phänomen, das stark in der iranischen Gesellschaft verankert ist und daher seine Berechtigung hat.


Wir uns Taroof im Alltag begegnen kann

Taroof kann einem zum Beispiel auch in Cafés oder auf öffentlichen Märkten begegnen, wo Verkäufer:innen ihrer Ware im Gespräch keinen Preis verleihen und andeuten, dass sie sie verschenken wollen. Dies ist jedoch rein symbolisch und kann vom Gegenüber nicht ohne Gesichtsverlust angenommen werden. Oder es wird eine Einladung zum Essen ausgesprochen, obwohl der Kühlschrank leer ist und man eigentlich keine Zeit hat. Das passiert tatsächlich auch nicht selten unter Freunden und Verwandten. Taroof gibt es auch innerhalb von Familien. Wer Taarof kennt, lehnt in solchen Situationen dankend ab. Oder man sagt seinem Gegenüber warnend “Kein Taroof!”, wenn man sich gerade unsicher ist, ob die Einladung nur Taroof oder wirklich ernst gemeint ist. Wir geben zu. Es ist verwirrend. Und auch viele Iraner:innen finden diese Kultur anstrengend, vor allem junge Menschen.

 

Für uns waren diese Situationen anfangs sehr befremdlich und lösten eine gewisse Scham aus, da wir nicht wussten, wie wir reagieren sollten, ohne den anderen zu kränken. Zudem war es für uns schwierig zu unterscheiden, ab wann eine Geste der Gastfreundschaft aufrichtig gemeint ist, und wann es Taroof ist. Mit der Zeit wurden wir Taroof-erfahrener, jedoch fühlte es sich immer noch unnatürlich an, dieses Spiel der höflichen Interaktion mitzuspielen. Aber genau das ist im Iran kulturell angemessen. Und wenn wir Gäste in einem anderen Land sind, ist es eben unsere Pflicht zu beobachten, zu lernen und uns anzupassen.

Für uns war diese Erfahrung auch deshalb so prägend, weil wir am eigenen Leib erfahren haben, wie schwierig es sein kann, sich in eine andere Kultur zu integrieren. Das hat zu einem Perspektivwechsel angeregt. Deutschland ist ein Einwanderungsland und viele Menschen träumen davon, hier ihr Glück und eine bessere Zukunft zu finden. Doch Integration ist nicht immer leicht. Sie kostet Zeit und Kraft. Das liegt auch daran, dass Eingewanderte ihre eigenen Verhaltensweisen im Kontext der für sie neuen deutschen Alltagskultur hinterfragen müssen. Die Erfahrung von Taroof lehrte uns Demut und ein größeres Einfühlungsvermögen für all diejenigen, die ihre Schwierigkeiten haben, sich in die deutsche Kultur zu integrieren. So unverständlich für uns die iranische Höflichkeitsgeste war, so unverständlich können für andere Kulturen die impliziten und versteckten Interaktionsregeln in Deutschland sein. 

 

Wie oft denken wir in Deutschland über die kulturellen Herausforderungen für Zugewanderte nach?

3. Das alles ist Russland?!

Welche Bilder kommen dir zuerst in den Sinn, wenn du an Russland denkst? 

 

Meine ersten Assoziationen deckten sich vor allem mit dem, was ich aus dem Fernsehen kannte. Russland ist der Kreml. Russland ist Sankt Petersburg. Das Bolschoi-Theater in Moskau bringt die Elite des Balletts hervor. Russisch ist eine slawische Sprache und die Menschen haben slawische Gesichtszüge. Taiga und Tundra dominieren die russischen Landschaften. Russland ist unfassbar groß. Die russische Geschichte ist geprägt von Monarchen und Autokraten. Ich gebe zu, dass ich vielleicht auch ein bisschen an Adidas-Jogginghosen, Russenhocke und Sonnenblumenkerne denken muss. Das war es dann auch schon mit meinem Wissen.

Russland oder Russische Föderation?

Quelle: Wikimedia

Als wir im Mai diesen Jahres von Georgien mit dem Fahrrad über die Grenze nach Russland fuhren, waren wir vor allem angespannt. Wie wird die Grenzerfahrung? Wie werden die Leute auf uns reagieren?

 

Und wie so oft, lief alles anders, als gedacht. Bereits an der Grenze wurden wir mit echtem Interesse seitens der Grenzpolizist:innen sowie warmen Worten und Einladungen von LKW-Fahrern empfangen. Aber das war nicht die größte Überraschung. Unsere Route führt uns in den 4 Wochen Aufenthalt einmal nördlich um das Kaspische Meer. Erst auf dieser Strecke wurde uns richtig bewusst, warum Russland eigentlich Russische Föderation heißt.  Alle paar Tage überschreiten wir die Grenze zu einer neuen Republik. 

 

Insgesamt gehören 21 autonome Republiken zum russischen Staatsgebiet. Und durch fünf davon fahren wir auf unserer Reise: Nordossetien-Alanien, Inguschetien, Tschetschenien, Dagestan und Kalmykien. Zudem durchquerten wir die Oblast Astrachan mit der gleichnamigen Hauptstadt, bevor wir Kasachstan erreichten. Jede dieser Regionen hat ihre eigene Geschichte, Kultur, Religion und zahlreiche Sprachen. Die Russische Föderation ist so ein riesiges Gebiet, dass die einzelnen Republiken, Regionen und Oblaste wiederum in acht Föderationskreise zusammengefasst werden. Durch zwei dieser Föderationskreise (Nordkaukasus und Südrussland) reisten wir. 

Ein kultureller Schmelztiegel

In der ersten Republik Nordossetien-Alanien, die wir besucht haben, leben fast zwei Drittel Osseten, eine der wenigen iranischen Ethnien im Kaukasus. Die ossetische Sprache ist ein ironischer Dialekt und die Mehrheit der Bevölkerung praktiziert das orthodoxe Christentum. 

Von der Hauptstadt Nordossetien-Alaniens, Wladikawkas, sind es nur 30 km in die autonome Republik Inguschetien. Das Volk der Inguschen ist überwiegend muslimisch und spricht eine kaukasische Sprache, die dem Tschetschenischen ähnelt. 

 

Weitere 50 km östlich liegt die autonome Republik Tschetschenien, deren Bevölkerung ebenfalls mehrheitlich dem Islam angehört. Die aus der Tschetscheno-Inguschischen ASSR hervorgegangene Republik war nach der Auflösung der Sowjetunion Schauplatz von zwei Kriegen teils islamistischen Separatisten und der russischen Zentralregierung, die zu schweren Zerstörungen führten. 

 

Gleichzeitig kam es Mitte der 1990er Jahre zu einem offenen Krieg zwischen inguschischen Rebellen und Osseten. Diese belastete Vergangenheit ist in den Gesprächen mit den Menschen aus diesen Republiken immer noch spürbar, denn viele haben Familienangehörige sowie ihr Zuhause in diesen Auseinandersetzungen verloren.

 

Die im Osten an Tschetschenien grenzende autonome Republik Dagestan ist besonders heterogen. Sie beheimatet über 100 verschiedene Ethnien und ist damit die diverseste Region der Russischen Föderation. Was uns sofort auffällt: Hier wird viel mehr Russisch gesprochen als etwa im benachbarten Tschetschenien. Die Antwort ist schnell gefunden und leuchtet uns ein. Denn in Dagestan werden fast 30 Sprachen und über 80 Dialekte gesprochen. “Hier spricht jede Siedlung, jedes Dorf seine eigene Sprache. Ich verstehe nicht einmal meinen Freund. Deshalb sprechen wir Russisch”, sagt einer unserer Gastgeber. Er ist Aware, während sein Freund zu den Laken gehört. Russisch ist so etwas wie eine Sprachbrücke zwischen den Völkern. 

 

So ist es irgendwie erstaunlich, dass ein so polyethnisches Land wie Dagestan nach dem Zerfall der Sowjetunion von den kriegerischen Auseinandersetzungen im Kaukasus verschont blieb. Von Dagestan ging es weiter in die einzige buddhistische Republik Europas. 

Aus Schwarz-Weiß wird Grau

So stelle ich nach über einem Monat auf dem Rad fest, wie wenig diese Eindrücke mit dem Bild Russlands zu tun haben, das ich ursprünglich im Kopf hatte. So vielfältig wie die Menschen, die hier leben, sind auch die Meinungen und Sichtweisen auf Vergangenheit und Gegenwart. 

 

Wer Russland aus der Ferne betrachtet, neigt zu der Annahme, es handele sich um eine große homogene Masse. In der medialen Berichterstattung wird gerne von „dem Russen“ gesprochen. Gemeint ist damit aber eher die Politik in Moskau - die Elite. Trotzdem entsteht in unseren Köpfen schnell das pauschalisierte Bild einer russischen Einheit. Doch diese Einheit gibt es nicht. Wenn man hierher kommt und die Menschen näher und differenzierter betrachtet, merkt man wieder, dass sich die Welt nicht in Schwarz und Weiß einteilen lässt. 

 

Und das lieben wir an dieser Reise. Wir gewöhnen es uns ab, pauschal in Schwarz und Weiß zu denken. Wir Menschen neigen dazu, automatisch zu verallgemeinern und vieles über einen Kamm zu scheren. Wir suchen nicht nach dem, was in uns Dissonanzen auslöst, sondern oft nur nach Informationen, die unser bisheriges Weltbild bestätigen. Der so genannte “Confirmation Bias” bezeichnet genau diese Tendenz, Informationen schwarz oder weiß auszuwählen und so zu interpretieren, dass sie die eigenen Erwartungen bestätigen. 

 

In Bezug auf Russland sind wir nicht zuletzt seit dem Kalten Krieg daran gewöhnt, dass Russen ein negatives Narrativ anhaftet. Der “böse Russe” ist eben leichter zu verdauen als eine differenzierte Analyse der russischen Gesellschaft, Geschichte und der politischen Elite. 

Danke, Russische Föderation, dass du uns geholfen hast, in Zukunft mehr in Grautönen zu denken statt in Schwarz und Weiß.

4. Ramadan & Deutschland: Wo bleibt das Verständnis?

2023 bereisten wir Saudi-Arabien während des muslimischen Fastenmonats Ramadan. Saudi-Arabien ist die geografische Wiege des Islam. Die monotheistische Religion, die der Mekkaner Mohammed Anfang des 7. Jahrhunderts begründete, hat heute mehr als zwei Milliarden Anhänger. Für uns war es eine spannende Erfahrung, das Land in dieser heiligen Zeit mit dem Fahrrad zu erkunden. 

 

Der neunte Monat des islamischen Kalenders ist für Muslime auf der ganzen Welt eine ganz besondere Zeit. Es ist die Zeit des entbehrungsreichen Fastens. Dies soll Muslime in ihrem Glauben stärken und daran erinnern, Gutes zu tun. Neben der seelischen und körperlichen Reinigung und der Besinnung auf sich selbst geht es im Ramadan auch um Gemeinschaft und Solidarität mit Bedürftigen. Da sich der islamische Kalender an den Mondphasen orientiert, verschieben sich die Daten des islamischen Jahres aus der Perspektive des Sonnenkalenders durch das Jahr. So beginnt Ramadan etwa 10-12 Tage früher als im Vorjahr. 

Das öffentliche Leben verlagert sich bis spät in die Nacht

Während des gesamten Ramadan müssen alle Muslime zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang auf Essen und Trinken verzichten. Ausgenommen sind Kranke, Reisende, Schwangere, Alte und Frauen während der Menstruation. 

 

In Saudi-Arabien richtet sich das ganze Land nach den Ritualen des Fastenmonats. Die Geschäfte schließen zu den Gebetszeiten und das öffentliche Leben verschiebt sich nach dem Fastenbrechen bis spät in die Nacht, wo sich die Menschen versammeln. So war es nicht ungewöhnlich, dass der Handyladen plötzlich zwischen 15:00 und 03:00 Uhr geöffnet hatte. Der Alltag im ganzen Land wird in diesem Monat auf den Kopf gestellt, aber das Land und die Menschen sind daran gewöhnt. Das Ende des Ramadan wird am letzten Tag mit dem Eid al-Fitr, dem Fest des Fastenbrechens, gefeiert.

 

Uns Radreisenden wurde in dieser Zeit besonders viel Verständnis entgegengebracht, auch wenn wir nicht muslimischen Glaubens sind. Die Menschen boten uns tagsüber Essen und Trinken an, obwohl sie selbst fasten. Es ist auch eine Zeit, in der die Menschen viel über Nächstenliebe nachdenken, sich um Bedürftige und ihre Mitmenschen kümmern. Generell geht es in dieser Zeit viel darum, sich von sündigen Aktivitäten fernzuhalten und stattdessen die Zeit mit Gott und dem Gebet zu verbringen. 

 

Morgens vor Sonnenaufgang wird die letzte Mahlzeit Sahūr eingenommen. Nach dem Maghrib-Gebet, dem Gebet zum Sonnenuntergang, trifft man sich abends gegen halb acht zum Iftār, dem Abendessen. Der Überlieferung nach brach der Prophet Mohammed das Fasten mit einem Glas Wasser und Datteln, die deshalb oft fester Bestandteil eines jeden Sahūr und Iftār sind. Und auch wir beobachten bei unseren Treffen zum Fastenbrechen, dass die Saudis als erstes Datteln essen und Wasser trinken. Die Menschen versammeln sich zum Iftar auf der Straße, in den Häusern und öffentlichen Gebäuden, weshalb wir oft direkt zum Fastenbrechen eingeladen wurden, da wir noch mit dem Fahrrad unterwegs waren. Gerade zu Beginn des Ramadan merkte man den Menschen die Umstellung an. Das Fasten macht müde. Der Körper muss sich erst an das Fasten und den veränderten Schlafrhythmus gewöhnen.

 

Jeden Tag wurde uns in den Gesprächen mit den Menschen bewusst, wie wichtig der Fastenmonat für sie ist. Als Muslime ist es eine der wichtigsten Pflichten im Islam.

"Ich musste tausende Kilometer an den Ursprung des Islams reisen, um mir einzugestehen, dass ich keine Empathie für die Muslime in Deutschland habe."

Ich denke an die über 5 Millionen Muslime, die in Deutschland leben. Die Fastenzeit ist in Deutschland auf der Nordhalbkugel um viele Stunden länger als in Saudi-Arabien. Außerdem leben die Muslime in Deutschland ihren Glauben in der Minderheit und das öffentliche Leben ist nicht auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet. Je mehr ich über den Islam in Saudi-Arabien lernte, desto mehr hinterfragte ich mein eigenes Verhalten gegenüber Muslimen in Deutschland.

 

Habe ich meine muslimischen Kolleginnen und Kollegen bei der Arbeit schon einmal gefragt, wie es ihnen während des Fastenmonats Ramadan geht? Habe ich Muslime in Deutschland einmal gefragt, was sie an der Fastenzeit schätzen oder wie sich ihr Alltag durch das Fasten verändert?

Immerhin habe ich früher in der Personalabteilung gearbeitet. Haben wir im Team jemals darüber nachgedacht, eine Sensibilität für das Thema in der Firma zu schaffen?

 

Ich musste tausende Kilometer an den Ursprung des Islam reisen, um mir einzugestehen, dass ich keine Ahnung und deswegen auch keine Empathie für die Muslime in Deutschland habe.

 

Die größte religiöse Minderheit in Deutschland verdient meiner Meinung nach mehr Verständnis Und dazu gehört auch, dass die deutsche Mehrheitsgesellschaft ihre Ignoranz gegenüber dem wichtigsten Monat im islamischen Kalender ablegt und einen Schritt auf die Menschen zugeht. Islamische Rituale gehören in meinen Augen zum deutschen Alltag und zur deutschen Kultur. 

 

Nach Angaben der Bundeszentrale für politische Bildung lässt sich im wissenschaftlichen Diskurs der letzten 15 Jahre eine interdisziplinäre Präferenz für einen bedeutungs- und wissensorientierten Kulturbegriff feststellen. Dies bedeutet, dass Kultur als die Gesamtheit der von Menschen hervorgebrachten Vorstellungen, Denkformen, Empfindungsweisen, Werte und Bedeutungen zu verstehen ist. 

 

Und da in Deutschland mehrere Millionen Muslime leben, gehören sie mit ihrer Religionsausübung genauso zur deutschen Kultur wie andere Religionen, deren Freiheit durch unsere Verfassung und unsere demokratische Grundordnung geschützt ist. In Deutschland gibt es rund 2.500 Moscheen. Mehr als eine Million Menschen besuchen laut einer repräsentativen Studie der Islam Konferenz wöchentlich eine Moschee. Zwei Drittel der Muslime nehmen an religiösen Festen teil.

Da ist es doch nicht zu viel verlangt, dass ich als deutsche Kartoffel etwas über muslimische Rituale lerne?

Reflexion als inneres Werkzeug

Ich bin so dankbar, dass ich diese Reise machen darf. Sie lässt mich erleben und reflektieren, sie irritiert und fordert mich, sie lässt mich lernen und kulturelle Aha-Erlebnisse haben. Erst das Reisen und der Mut, mit offenen Augen in fremde Kulturen einzutauchen, haben mir diese Lernreise ermöglicht. Erst im Ausland habe ich angefangen, über Deutschland nachzudenken. Erst auf Reisen wurde ich so intensiv mit meinen eigenen Denkweisen konfrontiert. Das Fahrrad als Transportmittel bietet dabei die intensive, aber notwendige Möglichkeit der zwangsläufigen Auseinandersetzung mit seiner Umwelt.

 

Was mein Heimatland betrifft, ist mir wieder einmal erst auf Reisen bewusst geworden, in welchem El Dorado mit Entwicklungspotenzial wir in Deutschland leben. Erst auf Reisen ist mir bewusst geworden, wie wertvoll der eigene Pass ist und wie viele Menschen gerne an meiner Stelle wären. Das macht mich demütig.

 

Diese vier Lernmomente im Irak, im Iran, in Russland und in Saudi-Arabien haben mir geholfen, mich mehr mit den Menschen und ihren Realitäten zu verbinden. Darauf gilt es aufzubauen, denn ich bin noch nicht am Ende angekommen. Die Reflexion meiner inneren Reise ist dabei ein wichtiges Werkzeug, um das zu ernten, was man auf einer Weltreise mit dem Fahrrad sät.

Und um mit Ilya Trojanow zu schließen:

 

“Dürfen wir in einer derart wohlhabenden und gebildeten Gesellschaft wirklich nicht fordern, dass Reisen ein wenig zur philosophischen Reflexion beiträgt? Letztlich hängt alles davon ab, ob wir von der Heimat in die Fremde und wieder zurückreisen oder die Fremde in Heimat verwandeln.”

 

Joscha Friedrich

 


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